Weitere Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg ©
1986-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
21. Dezember 1996
Weihnachten im Luisenhof
Schon in der Frühe des Heiligabends durchwehten
verführerische Düfte das ganze Haus, setzten seine Bewohner
in eine erwartungsfrohe Stimmung und gaben Kunde davon, daß das
schönste Fest des Jahres gekommen war. Paul Ruhnow, der Hausherr,
hatte dafür gesorgt, daß nicht nur die Menschen im Luisenhof
über die Feiertage einmal so richtig schwelgen konnten, sondern
daß auch in den Ställen das Vieh ein besonders gutes und
reichhaltiges Futter bekam. Er war davon überzeugt, daß auch
Tiere wissen, wann Feiertag ist.
Am Nachmittag ging er zum Pietschker Berg hinauf, jener Anhöhe,
die mit 181 Metern zu den höchsten Erhebungen im Kreis Stolp
gehört und die von den genau auf der anderen Hügelseite
wohnenden Jerskewitzern „Pigitsch“ genannt wurde, um aus dem Gutswald
einen Weihnachtsbaum zu holen. Das hatten schon alle Generationen vor
ihm so gemacht, und so würden es auch alle nach ihm tun. Es gab
dort oben junge Fichten in Fülle, die zudem irgendwann doch
ausgeholzt werden mußten, um nur wenigen Stämmen den Wuchs
zu voller Größe zu ermöglichen.
Es begann schon zu dämmern, als er durch tiefen Schnee gegen den
Eiswind ankämpfte, der aus Richtung Osten den steilen Hang
herunter wehte und ihm gehörig in die Backen kniff. Auf der
Anhöhe begann der Wald, in dem es immer „einen Rock wärmer“
war, wie die Leute zu sagen pflegten. Ringsum herrschte nahezu
Totenstille, die nur vom Wispern einiger Goldhähnchen in den hohen
Kiefern unterbrochen wurde. Ein Hase fuhr jäh aus seiner Sasse und
zog eine Schneewolke hinter sich her, den Bauern erschreckend, der sich
unvermittelt bewußt wurde, auf unrechtem Weg zu gehen.
Paul beruhigte sich aber bei dem Gedanken, daß der alte
Gutsförster Senkel, der in Zeromin wohnte, um diese Zeit am
Heiligabend bestimmt nicht mehr im Wald anzutreffen war. Und bis nach
den Feiertagen würde der Ostwind längst alle Spuren im Schnee
zugestiemt haben. So bewegte er sich zielstrebig auf einen Fichtenwald
zu, der zwar wahre Schneelasten auf den Zweigen trug, unter denen er
aber aus Erfahrung junge Bäume wußte, die einen guten
Weihnachtsbaum abgaben.
Wer die Wahl hat, der hat die Qual, und so war es auch in diesem Fall.
Paul bewegte sich gebückt unter dem Schneebehang hin und her, nach
einem geeigneten Bäumchen ausspähend, ab und zu von einzelnen
Stämmchen die Schneelast abschüttelnd, um sie besser
abschätzen zu können. Endlich hatte er eine Fichte gefunden,
die gleichmäßig gewachsen war und ihm zusagte. Er hieb sie
mit dem Beil knapp über dem Boden ab, legte sie über die
Schulter und kehrte, in die eigenen Fußtapfen tretend,
hangabwärts zum Luisenhof zurück, während über den
weiten Krischanwiesen vor dem Hochmoor bereits das letzte Tageslicht
verblaßte und aus Richtung Groß Nossin die Christnacht
heraufzog.
Paul stellte die Fichte im Hausflur ab und sagte seiner Tante Bescheid,
die ihm seit dem Tod der Eltern den Haushalt führte und die er
gemeinsam mit den beiden Mägden in der Küche hantieren
hörte. Das Schmücken des Weihnachtsbaums war Sache der
Frauen, da hatte sich kein Mann drum zu kümmern. Die Jungmagd
Käthe verschwand gleich darauf mit dem Bäumchen in der guten
Stube, die nur an besonderen Tagen im Jahr betreten wurde, und als die
Altmagd Mathilde ihr wenig später folgte, begab sich Paul, nachdem
er Stiefel und Joppe ausgezogen hatte, in die Wohnstube, wo er sich am
riesigen Kachelofen erst mal richtig aufwärmte.
Er war nahe daran, am Ofen ins Land der Träume zu wechseln,
deshalb stand er auf und trat ans Fenster, wo er ein Loch in die
Eisblumen pustete, die alle Scheiben bedeckten. Endlich hatte er freie
Sicht und konnte die unzähligen Sterne am samtfarbenen Nachthimmel
betrachten, unter denen ihm ein besonders heller auffiel, der ihn
unwillkürlich an den Stern von Bethlehem erinnerte, der dort zur
Geburt Christi gestrahlt hatte.
Plötzlich fielen ihm die Geschenke ein, die er in seiner
Schlafkammer im Obergeschoß des Hauses versteckt hatte, damit die
neugierigen Mägde sie nicht aufstöberten, die ihre Nasen in
alles steckten. Während die Mägde ihre kleinen Gaben selbst
fertigten, was Tante Berta und die Knechte auch so machten, war Paul
mit dem Zug nach Bütow gefahren und hatte in der kleinen Stadt das
eingekauft, was er für seine Mitbewohner zum Fest benötigte.
Er holte die hübsch eingewickelten Geschenke herunter und legte
sie auf den Gabentisch, wo die Mägde ihre emsige Tätigkeit
kurz unterbrachen und neugierig herüber blickten. Ohne ein Wort
verließ Paul die gute Stube wieder und zog sich erneut in die
Wohnstube zurück. Er liebte die Schummerstunde und ließ sich
in dem dunklen Raum abermals auf der Ofenbank nieder.
Nicht lange danach rief Tante Berta mit hellem Klingeln die
Hausgemeinschaft in die Küche, wo der Abendbrottisch schon gedeckt
war. Sie betrachtete die Ankömmlinge mit kritischen Blicken, ob
auch alle festlich angezogen waren, und schien zufrieden zu sein. Dann
schritt sie voran in die gute Stube, wo der Christbaum schon im
Lichterglanz erstrahlte und die Eintretenden jäh mit
Feiertagsstimmung erfüllte. Sogar Willi, dem Großknecht, der
an vielem, was in der Bibel stand, etwas auszusetzen hatte, war in
diesen Augenblicken feierlich zumute. Dem Kleinknecht Erich dagegen,
erst vor einem halben Jahr ins Haus gekommen, standen vor Rührung
Tränen in den Augen. Er war von anderer Natur.
Als sich alle im Halbkreis vor dem Lichterbaum versammelt hatten,
befahl Tante Berta kurz: „Das Gedicht“, worauf die Jungmagd Käthe,
der diese Aufgabe zufiel, folgsam vortrat und hastig jenen Vers
aufsagte, der ihr morgens beim Abreißen des Kalenderblatts
aufgefallen war:
„Von hohen Himmelsfernen
auf einem blauen Band,
im Glanz von tausend Sternen
kam stilles Glück ins Land
und hat im Dunkeln ein Lichtlein angesteckt,
hat Sorgen Gram und Schmerzen leise zugedeckt.“
„Gut gemacht“, lobte Tante Berta und gab damit den Weg an den
Gabentisch frei. Da gab es ein lustiges Plappern und Kichern, als die
Geschenke ausgepackt wurden, an dem sich Paul neugierig beteiligte, und
auch Tante Berta hatte etwas von ihrer Würde eingebüßt,
als sie ungeduldig das Geschenkpapier aufriß. Es waren keine
großen Gaben, die zum Vorschein kamen, meist Dinge, die zum
täglichen Bedarf notwendig waren, und trotzdem gab es in diesen
spannenden Minuten nur strahlende Gesichter. Um glücklich zu sein,
bedarf es wenig.
Nach der Bescherung versammelten sie sich in der Küche, wo es nach
alter Luisenhofer Tradition „warme Würstchen“ und Kartoffelsalat
gab, der nicht nur Tante Bertas Spezialität, sondern dessen
Zusammensetzung auch ihr streng gehütetes Geheimnis war. Es war
schon erstaunlich, was insbesondere die beiden Knechte bei diesem guten
Essen in sich hineinstopften. Zum einen gab es so was Köstliches
ja nur einmal im ganzen Jahr, und dann arbeiteten beide täglich
hart, da bildete nicht mal der Winter eine Ausnahme, weil es auf einem
Bauernhof niemals an Tätigkeiten mangelt.
Nachdem später auch das Vieh versorgt worden war - Paul hatte sich
davon überzeugt, daß die Tiere wirklich Festtagsfutter
bekamen - versammelte sich die Gemeinschaft noch einmal in der
Küche, wo Tante Berta zu den vielen selbstgebackenen
Plätzchen, die geknabbert wurden, eigenhändig Glühwein
ausschenkte, der ihr mindestens genauso gut gelungen war, wie vorher
der allgemein gelobte Kartoffelsalat. Nachdem sie noch nach pommerscher
Art den Weihnachtsbaum in der guten Stube „besungen“ hatten,
verschwanden sie in die Betten, denn am nächsten Morgen ging es in
aller Herrgottsfrühe in die Kirche. Der neue Pastor in Groß
Nossin hatten nämlich den Christgottesdienst schon auf sechs Uhr
morgens festgesetzt. Zwar gehörte der Luisenhof
pfarreimäßig nach Schwarz Damerkow, aber der Weg dorthin war
Paul zu kahl und zu windig. Der Weg nach Groß Nossin dagegen
führte durch Kiefernwald, wo der Ostwind nicht so scharf wehte.
Es war noch stockdunkel, als Willi mit dem Kutschschlitten vorgefahren
kam. Erich und die Mägde hatten, während der Großknecht
die Pferde gefüttert, gestriegelt und aufgeschirrt hatte, schon
das andere Vieh versorgt und auch die Kühe gemolken, ehe in aller
Eile ein kleines Frühstück eingenommen wurde. Ohne Essen
ließ Tante Berta keinen aus dem Haus. Ihr selbst war das deutlich
anzusehen, daß sie sich ebenfalls nach dieser strengen Regel
richtete. Böse Zungen behaupteten deshalb, sie benötige zwei
Stühle, um bequem sitzen zu können.
Dick eingemummelt verließen sie das warme Haus, in dem nur der
Hofhund Murri als einsamer Wächter zurückblieb, und
kuschelten sich in der strohgeflochtenen Schlittenmulde eng aneinander,
um sich gegenseitig zu wärmen. Der Ostwind strich schon wieder vom
Pietschker Berg herunter. Dann ging es in flottem Trab vom Hof, hinten
auf dem Kutscherbock Willi, beide Beine in einem Häckselsack, den
ein vorgeheizter Backstein von innen heraus wärmte. So konnte ihm
der Frost nichts anhaben, zumal er einen dicken Schafspelz anhatte und
Kopf und Ohren eine Schaffellmütze schützte.
Bis nach Bresinke, dem idyllischen kleinen Dorf am Waldesrand, ging es
am Moor vorüber, dessen Heidekraut und Krüppelbirken
vollständig unter der Schneedecke verschwunden waren. Die
Bresinker Bauern waren schon vor ihnen abgefahren, denn der Weg nach
Groß Nossin wies frische Schlittenspuren auf. Sie waren froh, als
der Wald sie aufgenommen hatte, denn der Eiswind hatte ihnen ganz
schön zugesetzt.
Die stampfenden Gäule wurden von ihrem Atem wie von einer
Dampfwolke umweht, und ihre geblähten Nüstern waren schon
nach einer kurzen Wegstrecke grau bereift. Es war immer noch
stockdunkel, und die flimmernden Sterne schienen direkt feindlich auf
sie herabzusehen. Die Kälte stand auch hier bei den Gitzingwiesen
wie eine unsichtbare Mauer. Die alten Bäume beugten sich unter den
Schneelasten, zu linker Hand schimmerte zwischen den Stämmen die
weite Waldwiese als unberührte weiße Fläche
herüber. Hinter dem Schwop, einem Wasserlauf, der zur Zeit der
Schneeschmelze zu einem reißenden Fluß anschwellen und in
seinem steilen Bett aus Richtung Wussowske dann gefährlich werden
konnte, wechselten Stangenholz und Schonungen einander ab, und erst ab
der Hegemeisterecke bei den Schottower Wiesen begleitete wieder hohes
Gehölz den Kirchweg.
Willi machte sich ein paarmal den Spaß, an tief
herabhängende Zweige heranzufahren, so daß sich deren
weiße Pracht über die aufkreischenden Mägde entlud, die
links in der Schlittenmulde hockten. Erst als sich Tante Berta „diesen
Blödsinn“ energisch verbat, nachdem auch sie eine Schneedusche ins
Gesicht abgekriegt hatte, ließ Willi die dampfenden Pferde wieder
brav dem Weg folgen. Ganz dicht vor dem Kirchdorf, wo sich der
Schottowbach mit dem Stregraben trifft, erreichten sie die von
Kleschinz kommende Chaussee, und schon flitzten linker Hand, nur als
dunkle Schemen erkennbar, die Gebäude des Ritterguts mit dem alten
Schloß im Park vorbei. Vor der Kirche, die mitten im Dorf steht,
wartete schon eine ganze Anzahl anderer Pferdeschlitten, und vor dem
Eingang des Gotteshauses drängten sich die Menschen.
Willi ließ seine kostbare Fracht absteigen und fuhr das Gespann
an einen überwindigen Ort, wo er die Pferde abhalfterte, ihnen Heu
vorlegte und sie mit warmen Decken zudeckte. Erst danach begab auch er
sich ins Gotteshaus, hielt sich aber so weit im Hintergrund, daß
der Pastor ihn gar nicht zu Gesicht bekam. Dann wurde ihm aber doch
ganz warm ums Herz, als der Gottesdienst anfing.
Paul und die anderen hatten einen Platz mitten im Kirchenschiff
gefunden, das mit reichlich Tannengrün ausgeschmückt war und
an dessen Altar ein mächtiger Tannenbaum in herrlichem
Lichterglanz erstrahlte. Die Kirche war bis zum letzten Platz
gefüllt, denn es war für die hiesigen Menschen undenkbar,
Weihnachten nicht zum Gottesdienst zu gehen.
Der Pastor wartete, bis die Gemeinde das Eingangslied „Es ist ein Ros'
entsprungen“ beendet hatte, ehe er sich auf die Kanzel begab und kurze
Zeit, sich innerlich sammelnd, auf seine Schäflein hinunter sah.
Obgleich im allgemeinen kein besonderer Redner, traf er heute doch mit
der Botschaft des Engels aus dem Lukasevangelium die Stimmungslage der
dichtgedrängt dasitzenden Gläubigen, denn alle lauschten
ergriffen seinen Worten. „Ehre ist Gott in der Höhe und auf Erden
Friede unter Menschen eines guten Willens.“ Um diesen Satz bewegte sich
die Predigt.
Der Gottesdienst klang nach dem Vaterunser mit dem schönen
Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ aus. Paul verließ
das Gotteshaus mit einer weihevollen Stimmung die ihn erst
draußen verließ, wo sich alle Kirchgänger „Frohe
Weihnachten“ zuriefen. Alle hatten es eilig, zu den Gespannen zu
kommen, weil die Kälte immer noch grimmig in der Luft stand.
Gemeinsam mit zwei Schlitten aus Bresinke ging es dann wieder in die
Wälder am Stregrabental hinein, wo es ganz allmählich hell zu
werden anfing. Als sie bei Bresinke aus dem Wald herauskamen,
verfolgten alle gespannt das Wechselspiel der Farben, das die
aufgehende Sonne an den Osthimmel malte. Von sattem Violett über
dunkelrot änderte sich der Horizont bis zu purem Gold, als sich
der feurige Sonnenball aus seinem Schneelager erhob und die weite
Feldmark mit einem rötlichen Schimmer überzog.
Auf der Weiterfahrt bemerkte bei den Moorwiesen mehrere Rehe, die dort
mühselig nach Nahrung scharrten, und er beschloß bei diesem
Anblick spontan, noch am Vormittag einen der Knechte mit einem
Schlitten voll Heu nach hier zu schicken, damit auch das Wild merkte,
daß Weihnachten sei.
Im Luisenhof angekommen, brachten die Knechte zuerst die Pferde in den
Stall und versorgten sie, ehe auch sie ins Haus eilten und sich wie die
anderen am Kachelofen aufwärmten, den die Altmagd vor der Abfahrt
vorsorglich eingeheizt hatte. Dann ließ Tante Berta das
Zweitfrühstück zur Feier des Tages in der Wohnstube
auftischen, und jetzt bog sich die Tischplatte buchstäblich unter
all den Herrlichkeiten aus Speisekammer und Keller. Da fehlten Schinken
und Mettwurst ebensowenig wie Blut- und Leberwürste vom letzten
Schlachten, nicht zu vergessen die pikante Spickbrust, die in Pommern
auf keinem Weihnachtstisch fehlen durfte. Auch jetzt verschwanden
wieder beachtliche Mengen der guten Sachen in den hungrigen Mägen.
Nach dem Essen bereiteten die Frauen in der Küche die
traditionelle pommersche Weihnachtsgans zu, während sich die
Männer bei einem Klaren (nur zur Verdauung, versteht sich)
über alles mögliche unterhielten. Dann erinnerte sich Paul an
die hungrigen Rehe auf den Moorwiesen, und er ließ einen
Schlitten mit Heu beladen und die Pferde anspannen. In einem
plötzlichen Entschluß machte er sich selbst auf den Weg,
begleitet von dem Hofhund Murri, der ihn mit lustigen Sprüngen
begleitete. Nach dieser guten Tat war ihm auf dem Rückweg erst
richtig weihnachtlich zumute, und er summte ganz leise „Oh du
fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ vor sich
hin.
Bereitgestellt von: Heimatkreis Bütow http://www.buetow-pommern.info
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© Klaus-Dieter Kreplin, Am Südhang 14, D-58313 Herdecke 2004