Weitere Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg ©
1986-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
vom 5.2.1994
Der Gerichtstag in Bütow
Der
Einschlag einer Granate vor der Haustür hätte keine
schlimmere Wirkung haben können als der Brief, den Pauls Mutter
ihm nach der Arbeit übergab und auf dem der schreckliche Absender
stand:Amtsgericht Bütow i. P. , bei dessen Anblick allein ihm die
Knie weich wurden und er sich wie ein Todkranker auf einen Stuhl am
Küchentisch fallen ließ.
Wie vom Donner gerührt saß er da, das Kuvert
unschlüssig in der Hand, und beachtete weder die dampfende
Klimpernsuppe noch die verlockenden Bratkartoffeln auf der Tischplatte,
sein Leibgericht, das er seit Jahr und Tag mit Behagen zum Abend
verspeiste und nach dem ihm schon bei der Arbeit im Wald richtig
jibberte. Nach einer Weile ließ Paul seine ratlose alte Mutter
nebst Klimpernsuppe und Bratkartoffeln stehen und stürzte in den
nahen Wald, wohin es vom „Ehmkenschloß“, einem am Rand von
Grünenwalde gelegenen Einzelgehöft, zum Glück nicht weit
war.
Gab ihm der Wald sonst das Gefühl unbedingter Geborgenheit, so
heute nicht, denn Paul hastete unter den Kiefern unruhig hin und her,
bisweilen unverständliche Worte brabbelnd, so durcheinander war
er. Vom „Ehmkenschloß“, in dem Paul und Mutter zur Miete bei der
ollen Wahrsagerin Mielke wohnten, die zwei Töchter im
„spätheiratsfähigen“ Alter besaß und ebenso geduldig
wie erfolglos darauf wartete, daß er irgendwann doch noch
„anbiß“, war es bis zur Bahnstrecke nach Neukrug nicht weit, und
doch benötigte Paul ganze zwei Stunden, ehe er dort anlangte. Es
wird immer sein Geheimnis bleiben, wo er sich so lange herumgetrieben
hatte.
Da es schon zu dunkeln anfing, duldete das verhängnisvolle Kuvert
keinen Aufschub mehr, und so lehnte sich Paul, zu allem entschlossen,
an einen Stamm und riß mit einem Ruck den Umschlag auf. Mit den
Lippen jedes Wort einzeln buchstabierend, las er mühselig,
daß er sich am nächsten Mittwoch, Schlag zehn Uhr, im
Amtsgericht als Zeuge einzufinden habe, um in der Verhandlung gegen den
Wilddieb Felix Glodowske auszusagen. Es beruhigte Paul gar nicht,
daß er nur als Zeuge zu erscheinen hatte, denn welcher
„anständige Mensch“ hatte schon mit dem Gericht zu tun...
Er verwahrte das entsetzliche Stück Papier wieder im Umschlag und
schotschte mit hängender Nase nach Hause, wobei er sich in der
Richtung irrte und Ganz erschrocken feststellen mußte, daß
er beim Jissebunksee kurz vor der Försterei Libiens (später
Ziethensee) herauskam, wo weiland Amanda ihrem Willem ihre zweite „gute
Hoffnung“ gebeichtet hatte. So war es schon spät und seine alte
Mutter vor Sorge ganz außer sich, als Paul endlich im
„Ehmkenschloß“ anlangte, wo Suppe und Bratkartoffeln noch immer
auf ihn warteten, mittlerweile aber „alt und kalt“ waren.
Weil er sowieso keinen Appetit hatte, setzte sich Paul auf die
Ofenbank, die er besonders an eisigen Winterabenden liebte, wenn dicke
Kloben im Feuerloch bullerten und angenehme Wärme zu
Wachträumen einlud. Heute war ihm aber nach keinen
Wachträumen zumute, in denen sonst Bujacks Ella aus Neuendorf eine
Hauptrolle spielte, denn der verdammte Brief ließ keinen anderen
Gedanken aufkommen.
Besonders setzte Paul zu, daß er an seinem Unglück selbst
schuld war. Warum auch hatte ihn der liebe Gott beim Pilzesammeln
ausgerechnet an jenen Kaddickbusch geführt, hinter dem der
berüchtigte Wildfrevler Glodowske gerade ahnungslos einen Rehbock
ausweidete? Paul hatte geistesgegenwärtig nach der abgestellten
Flinte gegriffen und den gar nicht mehr glückhaften Felix
festgenommen. Förster Küßner hatte nicht wenig
gestaunt, als Paul ihm den Frevler nebst dessen Flinte übergab.
Dem damaligen Triumph war jetzt ein regelrechter Katzenjammer gefolgt,
und Paul bedauerte es tief, den Wilderer damals nicht laufen gelassen
zu haben. Für solche Reue war es jetzt aber zu spät. Zum
Gericht mußte er, da half alles nichts.
Es wurde eine lange Nacht, in der sich Paul ruhelos auf dem Strohsack
hin und her wälzte und sich ausmalte, was ihm vor Gericht alles so
passieren könne. Man hatte da schon die schlimmsten Sachen
vernommen. Und die Zeit bis zum kommenden Mittwoch wollte und wollte
nicht verstreichen. Endlich war es dann aber doch so weit, und er
bestieg auf dem Bahnhof Jassener See um 8. 26 den Zug in die
Kreisstadt, voll der bösesten Erwartungen. Hätte ihn nicht
die Furcht vor einer zwangsweisen Vorführung getrieben, er
hätte noch in letzter Sekunde gekniffen. Am schlimmsten war der
Schlips, den er sich zum guten Anzug umgebunden hatte und der ihn zu
ersticken drohte und an dem er deshalb dauernd herumfummelte.
So starrte er mißgestimmt in die am Fenster vorbeihuschende
Landschaft mit ihren endlosen Kiefernwäldern und eingesprenkelten
Wiesen, Feldern und Seen. Er kam sich erst recht wie auf dem Weg zum
Schafott vor, als er in Bütow vom Bahnhof zur Ordensburg ging, in
deren Schatten der rote Ziegelbau des Amtsgerichts stand. Wenig
tröstlich war für ihn auch der Empfang, den ihm die anderen
Zeugen, ausnahmslos Grünröcke, auf dem Flur vor dem
Gerichtssaal bereiteten, die ihm noch mal zu seiner grandiosen Tat
gratulierten, allen voran Borraß und Utech, von Küßner
ganz zu schweigen, „dessen Mann“ Paul ja war. Ihm kam die noch
verschlossene Tür zum Saal wie das Tor zur Hölle vor, und so
fühlte er sich auch, als er aufgerufen wurde und sie durchschritt.
Beim Anblick der zahlreichen „Schwarzkittel“ hinter dem Tresen rutschte
Paul vollends das Herz in die Hosentasche, während ihm ein
plötzlicher Druck im Unterleib tückisch zusetzte. Von Felix
Glodowske, der wie ein Häufchen Elend auf der Anklagebank hockte,
nahm Paul gar nicht erst Notiz.
„Sie heißen Paul Golk und sind Waldarbeiter“, hörte Paul den
Vorsitzenden sagen, „sind sechsunddreißig Jahre alt, ledig...“
Und dann durchzuckte ihn ein Schreck, wie ein elektrischer Schlag, als
der Richter hinzusetzte „Sind also beim Fiskus beschäftigt.“
„Nein!“ stieß Paul bleich hervor, und es klang wie der Schrei eines Ertrinkenden.
Sämtliche „Schwarkittel“ machten betroffene Gesichter. Es war der
Staatsanwalt, ein griesgrämiger Mensch, der mit gerunzelter Stirn
streng fragte:
„Sie sind nicht beim Fiskus tätig, Zeuge?“ Und weil Paul angstvoll
nickte, dem Weinen näher als dem Lachen, fügte er
kopfschüttelnd hinzu: „Das steht hier aber doch schwarz auf
weiß.“ Er sah erwartungsvoll zum Ermittlungsbeamten hinüber.
Darauf versicherte Kriminalkommissar Teschner: „Jawohl, beim Fiskus,
wie ich es vermerkt habe, Herr Staatsanwalt.“
„Nein, das stimmt nicht!“ brach es abermals aus Paul heraus, der nur
noch mit Mühe seinen rebellierenden Unterleib bezwingen konnte und
in höchsten Nöten von einem Fuß auf den anderen trat.
„Aber das ist doch...“ Der Vorsitzende machte ein strenges Gesicht. Ehe er weiterreden konnte, rief Paul ganz verzweifelt:
„Wenn ich´s doch sag‘, hohes Gericht, ich bin nicht beim Fiskus!“
Das abweisende Gesicht des Vorsitzenden ließ ihn heiser
hinzufügen: „So wahr ich hier vor Ihnen stehe, ich hab´ den
Menschen noch nie gesehen!“
Da beugte sich Gerichtsschreiber Westphal tiefer über seinen
Block, der gestrenge Staatsanwalt biß auf seiner Unterlippe herum
und einer von den Beisitzern konnte nur mühsam einen Hustenanfall
unterdrücken. Nur dem Vorsitzenden gelang mit einiger Mühe,
ernst zu bleiben und die Verhandlung fortzusetzen, ohne allerdings noch
einmal auf den „Arbeitgeber Fiskus“ einzugehen.
Paul wurde sichtlich wohler, als er feststellte, daß das Gericht
von ihm nur erfahren wollte, was sich damals im Wald abgespielt hatte.
Und die Wahrheit, das hatte ihm seine Mutter schon früh
eingebleut, kann man jedem getrost ins Gesicht sagen; wenn ein
pommersches Sprichwort auch behauptete: „Wer die Wahrheit sagt,
muß die Tür auf dem Buckel haben.“
Er verließ den Sitzungssaal dann trotzdem mit Riesenschritten und
atmete abermals auf, als ihm einer von den Grünröcken die
Bedeutung der zwei Nullen an einer Tür erklärt hatte. Es
klappte nämlich mit der Erleichterung buchstäblich in
allerletzter Sekunde – sonst währe es im wahrsten Sinne des Wortes
in die Hose gegangen.
Weil der Sachverhalt klar war und der Angeklagte nach anfänglichem
Leugnen geständig – Felix hatte nämlich zuerst kühn
behauptet, den „ullen Rehbock jefunden“ zu haben, wogegen die von Paul
aufgenommene Flinte sprach -, erging die Urteilsfindung schnell, und
Felix wanderte für zwei Jahre hinter schwedische Gardinen. Die
Untersuchungshaft wurde allerdings nicht angerechnet. Diese
empfindliche Strafe genügte, um dem Unnosel das Wildern für
alle Zeit zu verleiden.
Wenn Paul später von der Gerichtsverhandlung erzählte, dann
tat er jedesmal so, als hätte er höchstpersönlich
„diesen Schubiak von einem Glodowske“ verdonnert. Er unterließ es
bei seinem Schwadronieren jedoch peinlichst, über einen gewissen
Herrn Fiskus zu reden, wie er auch taktvoll verschwieg, daß die
„ganze Geschichte“ um ein Haar sogar noch „in die Hose gegangen“
wäre.
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© Klaus-Dieter Kreplin, Am Südhang 14, D-58313 Herdecke 2004